Leseprobe: Philipp Röding ° Die Stille am Ende des Flurs
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Erbsen

Vor einiger Zeit hatte ihr jemand gesagt, dass dieses Pfeifen im Ohr, das erst an Intensität zunimmt, einen gewissen Punkt erreicht und dann verstummt, ein Zeichen dafür ist, dass diese eine Frequenz, die man gerade gehört hat, in der Zukunft nicht mehr wahrnehmbar sein wird . Es beginnt mit sehr hohen Frequenzen, wenn man jung ist, je älter man wird, desto tiefer werden die Töne, die nach und nach verlorengehen. Seitdem bleibt sie stehen, jedes Mal, wenn es passiert, horcht diesem einen Ton nach, der im Begriff ist zu verschwinden, wartet ab, bis nichts mehr zu hören ist, und geht dann weiter, im Bewusstsein, dass das, was gerade geschehen ist, sich so nicht wiederholen wird.

Eine Küche in einer kleinen Wohnung, durch die Fenster fällt Vormittagslicht, schwarzweiße Fliesen, drei Klappstühle um einen alten Tisch, Postkarten an den Wänden. Darauf: Motive, die man kennt oder kennen könnte, nicht wenige Stillleben, Blumen und Totenschädel, das herausgerissene Pissoir, farbige Flächen, die nichts Bestimmtes mehr abbilden. Eindruck einer umfangreichen Korrespondenz, Nachrichten aus aller Welt, millimeterlange Ausrufezeichen und Doppelpunkte: kleine Zeugnisse woanders sich entfaltenden Lebens.
Ein Aschenbecher, eine rostig angelaufene Kanne, in der sich Kaffee zubereiten lässt, eingebrannte Flecken auf der weißen Fläche des Gasherds, über der Lehne eines Stuhls hängt ein Paar Strümpfe, vielleicht zum Trocknen, vielleicht dort vergessen vor langer Zeit.
In diese Küche tritt eine jugendliche Person, ein Mädchen, vielleicht achtzehn oder neunzehn Jahre alt, das einen zu groß wirkenden, quergestreiften Herrenpyjama trägt, der aussieht, als stamme er von einem Greis, wahrscheinlich ein Fundstück vom Flohmarkt. Das Mädchen betrachtet seine Strümpfe, kratzt sich am Kopf und krempelt dann die Ärmel des Pyjamas hoch, ein Vorgang, der funktioniert, ohne dass es den Blick von den Strümpfen abwenden muss, was darauf schließen lässt, dass es das jeden Morgen so macht.
Mitten in diese Anordnung aus Erinnerungen, Gedanken und Gefühlen hinein sagt das Mädchen plötzlich einen Satz, es spricht ihn deutlich und bestimmt aus, als spräche es von einer Holzkiste aus zu einer vor ihm versammelten Menge:
„Es ist wirklich alles anders geworden!“, sagt es, und schaut daraufhin vorwurfsvoll die übrigen Gegenstände an, als ob sie für diesen Umstand irgendwie verantwortlich wären. Es schraubt die Kaffeekanne auf, löffelt schwarzbraunes Pulver hinein und entzündet den Gasherd.
„Wirklich, alles ist anders.“
Es überprüft kurz den sicheren Stand der Kanne und verlässt dann das Zimmer, im Gehen bindet es sich die Haare hinten zu einem Pferdeschwanz zusammen, mit jener gedankenlosen Koketterie, mit der nur Mädchen, die sich in einer ganz bestimmten Phase ihrer persönlichen Entwicklung befinden, sich die Haare zusammenbinden können.
Für mehrere Minuten geschieht nichts, außer den gedämpft durch das Fenster dringenden Geräuschen ist nichts zu hören, dann beginnt das Wasser in der Kanne zu kochen, Dampf steigt auf.
Irgendwo klimpert ein Schlüsselbund. Eine etwas ältere Frau betritt jetzt die Küche, anscheinend ist sie gerade erst nach Hause gekommen, sie trägt Schuhe mit Absätzen, eine fast durchsichtige Seidenbluse und eine weite Hose aus federleichtem Stoff, die schwarz ist wie Holzkohle.
Sie sieht etwas mitgenommen aus, scheint irgendetwas hinter sich zu haben, eine Nacht voller Arbeit, Kaffee aus Pappbechern, ein lange aufgeschobenes Gespräch mit einem unrettbar sexistischem Vorgesetzten, etwas, das sie auf fundamentale Weise ermüdet hat, etwas, das in Zusammenhang mit der langsam sich auflösenden Jugendlichkeit ihres Gesichts steht.
Eine Weile steht sie einfach so da, unkonzentriert die Szene betrachtend, die Kaffeekanne, die Postkarten an der Wand, unfähig, das, was sie vor sich sieht, als eine ihr zugehörige Wirklichkeit anzuerkennen. Schließlich scheint sie im Aschenbecher einen Anhaltspunkt entdeckt zu haben. Sie zieht zwischen den Kippen und der Asche eine noch nicht zu Ende gerauchte Zigarette hervor und zündet sie an der Flamme des Gasherds an, wofür sie sich vorbeugen muss, was ihr Gleichgewichtsgefühl auf eine ernsthafte Probe stellt. Es gelingt ihr, und erschöpft von dieser Übung lässt sie sich auf einen der Stühle fallen, so, als gelte es, einem Publikum durch diese Bewegung ihren Gemütszustand zu verdeutlichen. Sie raucht und schaut abwesend auf die Kaffeekanne, die gerade im Begriff ist überzukochen.
Als die ersten Tropfen aus der Kaffeekanne in der Flamme verdampfen, kommt das Mädchen im Pyjama zurück, dreht den Herd ab und versucht die Kanne mithilfe eines Geschirrtuchs auf den Tisch zu bugsieren. Von der Dame im Hosenanzug scheint es nicht wirklich etwas mitzubekommen, vielleicht ignoriert es sie auch absichtlich, oder die Handhabung der Kanne erfordert einfach seine ungeteilte Aufmerksamkeit. Nachdem es diese kleine Einlage erfolgreich beendet hat, fährt das Mädchen sich mit der Hand über die Stirn, eine Geste wie im Film, das Wegwischen unsichtbarer Schweißperlen. Es schaut nachdenklich in die Spüle, wo ein paar schmutzige Tassen herumstehen, als hätten diese Tassen gerade etwas von sich gegeben oder sich heimlich bewegt. Offensichtlich beschließt es, alles Weitere abzuwarten und setzt sich auf den Platz gegenüber der Frau mit dem Hosenanzug, allerdings ohne dabei die Spüle aus dem Blick zu verlieren, man weiß ja nie.
Jetzt erst lächeln die beiden sich zu, eine gegenseitige Versicherung, ein stilles Erkennen.
„Alles ist anders geworden, wirklich alles, nichts ist mehr so, wie es einmal gewesen ist.“
Der Satz wirkt wie ein Mantra, wie etwas, das oft genug wiederholt schon seinen Zweck erfüllen würde, das den Kontext, in dem es relevant ist, selbst konstruiert.
„Alles ist jetzt anders.“
Die Frau im Hosenanzug zieht die Augenbrauen hoch und bläst einen Rauchring, zu einer differenzierteren Reaktion scheint sie nicht aufgelegt zu sein.
„Früher habe ich mich immer gefreut, in die Küche zu kommen, ich hatte jeden Morgen das Gefühl, ein neues Land zu betreten, wie eine Forscherin. Wenn ich Kaffee aufsetzte, hatte ich den Drang, um Erlaubnis zu bitten, jetzt ist das alles selbstverständlich geworden. Diese Küche hat aufgehört, etwas zu verheißen, sie verbirgt auch nichts mehr. Früher kam es mir so vor, als ob alle Dinge sich in achtsamer Schwebe befänden, völlig ungeklärt, aufgeschlossen für alles, wenn du so willst. Indem ich sie dann gebraucht habe, machte ich sie zu dem, was sie sind.“
Das Mädchen spricht ruhig und sachlich, so als hielte es einen Vortrag vor einer Delegation ausländischer Würdenträger.
„Ich nannte das eine Objekt Kaffeekanne, das andere Stuhl oder Tisch, und stellte alles in einen Zusammenhang. Jetzt ist dieser Zusammenhang einfach da, mein Zutun scheint überhaupt nicht mehr notwendig. Ich ertappe mich dabei, wie ich versuche, möglichst unauffällig in die Küche zu gehen, in der Hoffnung, ich könnte die Gegenstände wieder in diesen früheren Zustand zurückbringen, indem ich sie sozusagen in dem Gefühl lasse, unbeobachtet zu sein. Es hilft aber nichts, tatsächlich spüre ich sogar, wenn ich in meinem Zimmer sitze, dass meine Abwesenheit nichts nach sich zieht. Es ist wie in dieser Geschichte, in der über Nacht immer diese Männlein auftauchen und alles in Ordnung bringen, wie hieß die noch mal?“
„Heinzelmännchen, die Geschichte von den Heinzelmännchen.“
Die Frau im Hosenanzug antwortet sehr gelassen, dieses Gespräch scheint sie nicht zum ersten Mal zu führen, sie kennt ihre Rolle darin. In der einen Hand hält sie noch immer die Zigarette, die inzwischen bis zum Filter heruntergebrannt ist.
„So wie die Heinzelmännchen, genau, in etwa so kamen mir früher die Gegenstände vor. Sie führten ein geheimes Dasein, wenn ich nicht hinschaute, und wenn ich dann da war, fügten sie sich nur für den Moment in die Rolle, die ich ihnen zuwies. Das hat mir immer so gut gefallen, dieses geheime Einverständnis zwischen mir und den Dingen, dass alles nur mehr oder weniger gespielt ist, zur Schau, eine kurzzeitige Abmachung. Das ist jetzt anders.“
Das Mädchen wirft die Arme hoch wie ein trauriges Kind, das nicht begreift, wie der Ball so plötzlich unter das Auto hat rollen können, durch die Bewegung löst sich ihr Ärmel aus seiner Aufkrempelung.
„Ich meine, das alles wäre ja nicht so schlimm, wenn es nur die Gegenstände betreffen würde, ich selbst könnte ja trotzdem so weitermachen, auf diesem So-tun-als-Ob beharren, nur geht das jetzt plötzlich auch nicht mehr. Wenn ich morgens aufwache, dann spüre ich gleich, ich bin voll und ganz da, ich schaue in den Spiegel und habe das Gefühl, etwas zugeben zu müssen, oder als ob der Spiegel mir mahnend mitteilen würde, jetzt doch bitte die Faxen sein zu lassen und mich vor ihm zurecht zu machen. Auch wenn ich Grimassen schneide, scheint das die allseitige Strenge nur zu verstärken.“
Die Frau im Hosenanzug hört nicht mehr richtig zu, sie hat sich auf ihrem Stuhl so gedreht, dass sie die Kaffeekanne im Blick hat, sie zeigt mit dem Finger auf sie, wie um darauf aufmerksam zu machen, dass noch etwas zu tun sei.
Das Mädchen bemerkt diesen Hinweis nicht, es fährt fort und schaut dabei auf den Aschenbecher, dem es anscheinend unterstellt, besser für dieses Gespräch geeignet zu sein.
„Und mit den Leuten ist es genauso. Ich unterhalte mich und warte ständig darauf, dass mein Gegenüber plötzlich aussteigt, den möglichen Ernst des Gesprächs missachtet und aus dem Spiel aussteigt. Wie ein Schauspieler, der seinen Text vergisst und das durch einen Scherz übergehen will.“
Während es redet, schiebt es den Aschenbecher hin und her, ein kleines Haustier, das man anstößt, damit es etwas Lustiges macht.
„Aber es steigt keiner mehr aus, jede Aussage ist tatsächlich eine Aussage, wenn ich dann zu lachen anfange, schauen die Leute mich irritiert an. Kein Mensch ist mehr ein Geheimnis, jeder trägt sich selbst offen herum, man redet, als könnte man es, als wäre es möglich. Ich selbst habe nicht das Gefühl, dass außer mir alle das Geheimnis gelöst haben, vielmehr kommt es mir so vor, als wären alle über die Unlösbarkeit dieses Rätsels übereingekommen.“
Die Frau im Kleid hat beschlossen, die Sache selbst in die Hand zu nehmen: Sie steht auf, greift aus der Spüle eine Tasse und gießt sich Kaffee ein, angelehnt an den Gasherd betrachtet sie aufmerksam das junge Mädchen. Sie hält die Tasse mit Daumen und Zeigefinger, was ihrer Erscheinung etwas damenhaft Elegantes verleiht: eine Chefredakteurin, die sich die Sorgen der Sekretärin anhört.
„Ich bin einfach sehr enttäuscht, ich habe das Gefühl, für irgendetwas bestraft zu werden, und ich weiß nicht, wofür. In dieser Geschichte, die mit den Heinzelmännchen, ich habe mich immer wahnsinnig über diese neugierige Frau aufgeregt, warum stellt sie den Heinzelmännchen die Falle mit den Erbsen, was soll das? Ich habe mir immer gedacht, dass ich das nie machen würde, ich hätte mir das doch nicht kaputtmachen wollen. Und jetzt ist es ganz von selbst kaputtgegangen, oder vielleicht es ist auch ganz geworden, und ich weiß beim besten Willen nicht, wie das passieren konnte.“
Das Mädchen bleibt noch kurz sitzen, schaut die Gegenstände im Raum an, als erwarte es Widerspruch, wendet sich der Frau im Kleid zu, zuckt die Achseln und verlässt die Küche.

Die Frau schaut eine Weile auf den Türrahmen, durch den das Mädchen verschwunden ist, stellt die Tasse ab und setzt sich zurück an den Tisch. Mit der Spitze ihres Zeigefingers fährt sie am Rand des Aschenbechers entlang, wieder und wieder, immer im Kreis. Mit einem Mal geht eine Art Beben durch den Raum, die Tassen in der Spüle schlagen klirrend aneinander wie furchtsame Kinder, ein Beben, das immer mehr an Intensität gewinnt, so als würde ein Düsenflugzeug das Haus in geringer Höhe überfliegen. Dann entfernt es sich wieder, die Gegenstände fallen zurück in die Regungslosigkeit, eine Abnahme der Bewegung, die so endgültig scheint, als sei die Erde irgendwo eingerastet.
Die Tränen, die kurz darauf auf die Tischplatte niedergehen, sind in ihrer Folgerichtigkeit unangreifbar.

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